Carina Konrad

Indien: Land der Gegensätze

Mit der deutsch-indischen Parlamentariergruppe durfte ich letzte Woche Indien besuchen. Vor der Abreise hatte ich gemischte Gefühle. Was erwartet man von einer Reise in ein Land, das sich politisch neutral zum Angriff Russlands auf die Ukraine verhält? Was erwartet man von einem Land, dessen Bevölkerungszahl in diesem Jahr die Chinas überholen wird? Was erwartet man von einem Land, in dem viele Hindus, aber auch zahlreiche Muslime leben und in dem es daneben zahlreiche Minderheiten gibt, auch christliche? Was erwartet man von einem Land, in dem Kasten zwar offiziell abgeschafft, aber in der Realität,  vor allem in ländlichen Regionen, oft noch real sind? Was erwartet man von einem Land, in dem über 36 Sprachen gesprochen werden?

Ich bin also  mit einer Gruppe Abgeordneter aus allen Fraktionen sehr gespannt gestartet, um Indien näher kennenzulernen – in nur einer Woche. Neben der Hauptstadt Delhi waren wir in Tiruvandrum in der Region Kerala und in Hyderabat. Denn wie bei uns in Deutschland wird die Politik zwar in der Hauptstadt-Bubble gemacht, doch das Leben der meisten Menschen findet außerhalb dieser Blase statt. In 36 offiziellen Terminen mit Ministern, Abgeordneten, Vertretern von Industrie, Wirtschaft, NGOs, Religionen, Stiftungen und vielen mehr, habe ich also versucht zu verstehen, was in diesem bunten Land der Gegensätze passiert und was das mit uns zu tun hat.

Die Demokratie Indien sieht in China ihre größte Bedrohung. Es gibt zwischen Indien und China im Norden keine klaren Grenzverhältnisse. Umso erstaunlicher ist für mich Indiens neutrales Verhalten zu den Grenzverschiebungen, die Putin in der Ukraine vollziehen will.

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Ungefähr 46 Millionen junge Menschen kommen in Indien in den nächsten vier Jahren ins erwerbsfähige Alter. Das sind so viele Menschen wie die erwerbstätige Bevölkerung Deutschlands insgesamt. Man spürt förmlich den Tatendrang und die Hoffnungen der jungen Menschen in Indien, bei Jungen wie Mädchen. Sie wollen etwas aus ihrem Leben machen. Sie glauben fest daran, dass Aufstieg für sie möglich sein wird. Die Regierung von Premierminister Modi und auch die beiden Regionalparlamente, die wir besucht haben, nehmen diese Aufgabe sehr ernst. Schulische Bildung ist für alle Kinder in Indien der Schlüssel zum Erfolg.

Mehr als 15.000 junge Inderinnen und Inder studieren derzeit in Deutschland. Damit sind sie die größte ausländische Studierendengruppe bei uns. Und Industrie, Tech-Unternehmen und andere Wirtschaftsbereiche haben das Potenzial, dass in diesen jungen Menschen steckt, längst erkannt. In Hyderabad, einem sehr jungen indischen Bundesstaat, stehen alle Zeichen auf Business. Die Firmenzentralen aller großen Namen aus der Welt sind dort bereits zu finden. Und der Wunsch der jungen Inderinnen und Inder, unabhängig von ihrer Religion und Herkunft ihren Lebensunterhalt zu verdienen - oft als IT Fachkräfte - wird dort Realität.

Doch das Angebot an Arbeitskräften übertrifft die Nachfrage bei Weitem. So hat es mich tief beeindruckt, in Trivandrum junge Arzthelferinnen kennenzulernen, die ihr Glück in Deutschland finden möchten. Seit dem letzten Jahr lernen sie Deutsch im Rahmen des sogenannten Triple-Win-Programms, das die Bundesagentur für Arbeit zur nachhaltigen Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland aufgelegt hat. Die jungen ausgebildeten Frauen lernen Deutsch, um in deutschen Krankenhäusern und Arztpraxen zu arbeiten. Dabei werden sie auch auf das Leben und die Kultur bei uns vorbereitet. Ein beeindruckendes Projekt mit tollen jungen Frauen, das mich begeistert hat. Ich freue mich schon sehr darauf, sie in Deutschland wieder zu treffen und dieses Programm weiter zu verfolgen.

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Die verantwortlichen Politiker haben sich viel vorgenommen. So haben wir in Hyderabad mit dem Wirtschaftsminister gesprochen, dessen ganzes Augenmerk auf der Ansiedlung von Unternehmen liegt. 15 Tage gibt er seinen Behörden zur Antragsbearbeitung. Wer das mit unseren bürokratischen Antragsverfahren vergleicht, merkt schnell, welche Dynamik in Indien herrscht.

Zweifelsohne gibt es zahlreiche Herausforderungen für so ein gigantisches Land. Angesichts der wachsenden Bevölkerung ist die Tatsache, dass ihre Versorgung mit Kalorien inzwischen gewährleistet ist, ein erster großer Erfolg. Doch die Mangelernährung aufgrund unzureichender Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen zu beseitigen, ist die nächste große Aufgabe.

Die medizinische Versorgung, die Bewältigung von Umweltproblemen und der Klimawandel sind weitere gigantische Herausforderungen. Denen stellt man sich dort Schritt für Schritt. Bei unseren Gesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, dass man ohne Scheuklappen und völlig technologieoffen an diese Herausforderungen herangeht. Wirklich abenteuerlich scheint die Stromversorgung zu sein. Den wachsenden  Energiehunger zu stillen, ist eine Mammutaufgabe. Neben Kohle- und Atomkraftwerken werden in dem Land, in dem jeden Tag die Sonne scheint, riesige Solaranlagen und die notwendige Infrastruktur gebaut.

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Was bedeutet das also für uns?

Unser Wohlstand ist nicht selbstverständlich. Unser technologisches Know-how, der Erfindergeist und unsere soziale Marktwirtschaft sind wahre Errungenschaften. Sie zu verteidigen bedeutet auch, sich den eigenen Herausforderungen zu stellen und unsere Trägheit zu überwinden. Planungsbeschleunigung ist kein Nice-to-have. Wir müssen den Filz der Trägheit abschütteln, der sich über uns gelegt hat.

Bildung, Fleiß, Anstrengung und kulturelle Offenheit sind zentrale Eigenschaften der Zukunft, um im Wettbewerb Schritt zu halten. Die Welt verändert sich gerade rasant. Nirgends wird das deutlicher als in Indien. Darin liegen zahlreiche Chancen für unsere alternde Bevölkerung. Die müssen wir ergreifen.

Technologieoffenheit ist die einzige Chance, Wohlstand zu erhalten und die Erde vor den Herausforderungen der Erderwärmung zu schützen. Scheuklappen können wir uns nicht leisten, sondern wir müssen offen sein für Neues!

Reisen bildet. Mich hat diese Woche bereichert. Nun geht es voller Tatendrang an die Aufgaben, die vor uns liegen.

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